- Lessing: Das bürgerliche Drama
- Lessing: Das bürgerliche DramaNeue Gattungen, die ausdrücklich »bürgerlich« genannt werden, durchbrachen um die Mitte des 18. Jahrhunderts die traditionelle literarische Hierarchie. Der Roman, nach Johann Carl Wezel die »wahre bürgerliche Epopee«, verdrängte das große Epos. Das »bürgerliche Trauerspiel« setzte die Ständeklausel außer Kraft und nahm den Platz der heroischen Tragödie ein. Für das Drama beschreibt Denis Diderot die Umbruchsituation: »Das dramatische System nach seinem ganzen Umfange wäre also dieses: die lustige Komödie, welche das Laster und das Lächerliche zum Gegenstand hat; die ernsthafte Komödie, welche die Tugend und die Pflichten des Menschen zum Gegenstand hat; das Trauerspiel, das unser häusliches Unglück zum Gegenstand hätte; und die Tragödie, welche zu ihrem Gegenstande das Unglück der Großen und die Unfälle ganzer Staaten hat.«Lessing, der die dramatischen und dramaturgischen Arbeiten Diderots übersetzte, wurde in Theorie und Praxis zum Vorreiter des neuen Dramas. Mit »Minna von Barnhelm« schuf er das unerreichte Muster der »ernsthaften Komödie«, mit »Miss Sara Sampson« das erste und mit »Emilia Galotti« das beste bürgerliche Trauerspiel deutscher Sprache. Im Briefwechsel mit den Berliner Freunden Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn behandelte Lessing schon 1756/57 die Prinzipien des neuen Trauerspiels. Kühn und modern hatte Nicolai in Anlehnung an die affektive Ästhetik des Abbé Du Bos erklärt: »Die Tragödie soll Leidenschaften erregen« und nichts sonst. Mendelssohn beharrte auf der moralischen Wirkung und sah sie, gemäß der »Tragédie classique«, in der Bewunderung für den Helden. Lessing wollte beides, die Leidenschaftserregung wie die Moral: Das Trauerspiel soll »durch Erzeugung der Leidenschaften. .. bessern«. Nur ein einziger Affekt kommt für diese doppelte Aufgabe in Frage, das Mitleid, das immer schon Erschütterung und Moralität in sich vereint. So wird die Poetik des Mitleids zur Grundlage des neuen Trauerspiels: »die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen erweitern«. Lessings Vorstoß nahm seine Sicherheit aus der neuen Hochschätzung des Mitleids, die sich vor allem Rousseau und der schottischen Philosophie des »Moral sense« verdankte. Deshalb der berühmte Satz: »Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste.« Noch die scharfsinnige Aristoteles-Auslegung der »Hamburgischen Dramaturgie« wird daran festhalten und im philanthropischen Geist der Aufklärung die aristotelische Lehre von der Erregung und Reinigung (Katharsis) der Leidenschaften ganz auf das Mitleid umlenken. Die Diskussion um das Mitleid bezeichnet wohl am besten das Feld, das sich das bürgerliche Trauerspiel erschließt: die private, intime Empfindungssphäre, die in der neuen Kleinfamilie zu Hause ist und den Menschen als Menschen, nicht als Standesperson darstellt. Das freilich ist bürgerliches Ethos.Die erste Probe der empfindsamen Mitleidspoetik bietet »Miss Sara Sampson« von 1755. Die moralische Qualität der Figuren bemisst sich nach ihrer Fähigkeit zum Weinen. Kein Wunder, dass zeitgenössische Aufführungsberichte von wahren Tränenströmen wissen, die das Publikum schüttelten. In der Gestalt der ebenso tugendhaften wie übersensiblen Sara entwirft Lessing ein Gegenbild gegen die stoisch-kalten, »unempfindlichen Helden«, die »schönen Ungeheuer« der französischen Tragödie. Zwischen den labilen Geliebten, mit dem sie geflohen ist, und den zärtlichen Vater gestellt, der ihr mit dem Willen zur Vergebung nachreist, führt Sara eine zerrissene Empfindsamkeit vor Augen, die sowohl ihre subjektiven Empfindungen wie die normativen Ansprüche der Tugend bewahren möchte. Mit den spitzfindigsten Argumenten, in einer Art moralischen Schauturnens, wehrt Sara sich gegen die Vergebung des Vaters, nicht um die »Halsstarrigkeit der Tugend«, sondern ein Höchstmaß an Altruismus zu demonstrieren, das dem Vater nicht eine Verzeihung »mit Entsagung seiner eigenen Glückseligkeit« zumuten möchte. Die Katastrophe, von der ehemaligen Mätresse des Geliebten herbeigeführt, ist schwach motiviert. Was für das tragische Kalkül zählt, ist vielmehr das breit ausgemalte Sterben der Märtyrerin ihrer Empfindsamkeit.Bis in die Bezirke der Tragödie reicht das ernste Lustspiel »Minna von Barnhelm«, das - ein entschieden neuer Kunstgriff - die Realität nach dem Siebenjährigen Krieg in den Blick nimmt. Der Major von Tellheim ist weit mehr als der traditionelle Held einer Verlachkomödie, seine Heilung weit mehr als die Korrektur eines lächerlichen Fehlers. Zu recht betrachtet sich Tellheim als »einen abgedankten, an seiner Ehre gekränkten Offizier, einen Krüppel, einen Bettler«. Sein Fehler beruht denn auch nicht auf einem bizarren Ehrbegriff, sondern auf der - ehrenhaften - Weigerung des Unglücklichen, sein Glück von der Geliebten anzunehmen, von ihrer »blinden Zärtlichkeit«. Erst das vorgespielte Unglück Minnas befreit den Melancholiker aus seiner Erstarrung. So steht im Zentrum der Komödie ein Wettstreit um die ganz uneigennützige, altruistische Liebe, der auch noch in Tellheims Verirrung die empfindsame Größe beider Liebenden ins rechte Licht zu rücken vermag. Dass der König selbst überdies Tellheims Ehre wiederherstellt, bestätigt nur das aufklärerische Vertrauen auf die Weltordnung, das Minna von Anfang an beseelt und sie über die tragischen Verdüsterungen Tellheims siegen lässt.Dieses Vertrauen fehlt selbst der Tragödientheorie der »Hamburgischen Dramaturgie« nicht, wenn sie mit Nachdruck auf dem Verbot des »Grässlichen« besteht. »Grässlich« und damit unerträglich ist das Leiden ganz Unschuldiger, wie es von moralischen Ungeheuern (Richard III.) bewirkt wird, denn es weckt »Schaudern«, »Murren wider Vorsehung«, »Verzweiflung«. Weg damit von der Bühne, ruft der Dramaturg aus. Aber hat er nicht womöglich in »Emilia Galotti« selbst gegen dieses Verbot verstoßen? Wiederholt hat Lessing erklärt, er wolle eine unpolitische, »bürgerliche« Fassung des alten Virginia-Stoffes, sei doch »das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werther ist, als ihr Leben, für sich schon tragisch genug«. Alles kommt deshalb auf eine »dramatische Algebra« (Friedrich Schlegel) an, die dieses Geschehen glaubwürdig macht. Der sentimentale, verantwortungslose und doch machtbewusste Prinz und sein Handlanger Marinelli steuern, mehr oder weniger absichtsvoll, die Ereignisse. Nicht weniger aber tragen zu deren fataler Verkettung die Verwirrungen und Fehler der Familie Galotti bei. Die Mutter ist allzu arglos; der Vater Odoardo in seiner rauhen Tugend schwankt zwischen Bekundungen der Ohnmacht und übereilter Wut. Und Emilia selbst? »Sie ist die Furchtsamste und Entschlossenste unsers Geschlechts«, sagt die Mutter von ihr. Als »Furchtsamste« erweist sie sich in der Kirchenszene, als sie die galanten Attacken des Prinzen in hilflose Verwirrung stürzen. Als »Entschlossenste« zeigt sie sich in ihrem Tod, den sie von ihrem Vater erbittet, um sich vor »Verführung« und vor ihrer eigenen Sinnlichkeit zu schützen. Die Verquickung von Todesmut und Bekenntnis der eigenen Schwäche berührt seltsam genug. Erregt dieser Schluss wirklich nur das tragische Mitleid des Zuschauers? Kommen da nicht doch Züge des »Grässlichen« zum Vorschein, die Empörung wecken - politische Empörung gegen die Urheber dieser Familientragödie? Solche Fragen sorgen dafür, dass »Emilia Galotti« noch heute auf der Bühne lebendig ist.Prof. Dr. Hans-Jürgen SchingsGeschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, begründet von Helmut de Boor und Richard Newald. Band 6: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik. 1740—1789. Beiträge von Sven Aage Jørgensen u. a. München 1990.Schulz, Gerhard: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration, Band 1: Das Zeitalter der Französischen Revolution. 1789—1806. München 1983—89.
Universal-Lexikon. 2012.